Wer kennt es nicht: Man diskutiert mit anderen (online oder im „real life“) über ein bestimmtes Thema und dann kommt einer daher und wirft ein komplett anderes, wenn auch meistens verwandtes, Thema auf, was irgendwie damit zu tun hat, die Diskussion aber in komplett andere Bahnen lenkt und man kommt komplett vom eigentlichen Thema ab. Sowas nennt man Whataboutism. Das ist ein Term, den ich eigentlich aus meinen Debattier-Kursen im Studium kenne, der aber ziemlich genau das beschreibt, was ich mittlerweile täglich in allerlei Diskussionen zu fast jedem Thema erlebe.
Beispiel:
- „Boah, was da grad in Ghouta in Syrien passiert ist wirklich furchtbar“
- „Ja, das stimmt. Echt krass, dass darüber in den Medien so wenig berichtet wird..“
- „Da merkt man wirklich, wo die allgemeinen Interessen liegen…“
- „Also im Jemen ist es grad auch total schlimm, da berichtet auch kaum einer drüber…“
- „Ja…das stimmt.“
Und damit ist die Diskussion um die Situation in Ghouta beendet, weil es ja jetzt plötzlich um Jemen geht, worüber die, die über Ghouta diskutiert haben gar nicht soviel wissen und daher läuft das ganze Gespräch ins Leere, eine „Lösung“ kann nicht gefunden werden (auch wenn dies bei diesem speziellen Beispiel wohl gar nicht das Ziel der Diskussion war).
Whataboutism hat seine Wurzeln übrigens in der Kriegspropaganda der Sowjetischen Union in den Zeiten des Kalten Krieges (und es ist auch heutzutage in Russland bei politischer Berichterstattung noch weit verbreitet, zuletzt 2014 bei der Situation um die Krim). Heutzutage wird es oft als Stilmittel in Debatten genutzt, wenn man die Argumente seines Gegenübers nicht widerlegen kann. Man attackiert daher sein Gegenüber mit der Anschuldigung der Scheinheiligkeit bzw. Heuchelei. Man wirft ihm/ihr vor, dass er/sie sich für das eine Thema zwar interessiert, ihm/ihr aber ein angeblich verbundenes Thema egal zu sein scheint. Whataboutism in seiner pursten Form quasi.
Wie kommt es zu Whataboutism?
Whataboutism geschieht, wenn jemand eine Situation mit einer anderen in Relation bringen möchte. Das Problem hier ist, dass die, die über ein Thema diskutieren, nicht zwingend auch etwas über das andere Thema wissen und so gerät die gesamte Situation ins Stocken. Meistens ist dies zwar nicht das Motiv des Anwenders, er/sie möchte vielleicht relativieren oder das „big picture“ aufzeigen, aber ich habe oft erlebt, dass danach einfach nur Zikaden-Zirpen herrscht und die Diskussion beendet wird. Oder sie läuft in eine komplett andere Richtung als der, der die begonnen hat, sich vorgestellt hatte. Ein sehr effektives Stilmittel in Debatten, wo es darum geht zu gewinnen. Doch fatal in Diskussionen, bei denen es darum geht ein Problem zu bewältigen/zu lösen, oder ein Thema und alle Seiten besser zu verstehen.
Was ist an Whataboutism so problematisch?
Einerseits führt es oft dazu, dass sich die Teilnehmer einer Situation überfordert fühlen. Die Meta-Ebene, zu der Whataboutism oft führt, wirft eine Art Hilflosigkeit auf, da man nun nicht mehr informiert diskutieren kann und merkt, dass einem die schiere Flut an Fakten über den Kopf steigt. Hat man eben noch über die Situation in Goutha diskutiert, so wird einem plötzlich wieder das ganze Leid auf der ganzen Welt vor Augen geführt, in dessen Angesicht man schier überfordert ist und ein Gefühl „was soll’s, ICH/WIR können daran eh nix ändern, ist ja eigentlich überall so…“ macht sich breit. Das Gespräch ist beendet und der eigentliche Wunsch, etwas an der Situation zu ändern bzw. aktiv zu werden, wurde im Keim erstickt. Schade, oder?
Ein weiteres Problem von Whataboutism ist, dass sich derjenige, der angefangen hat über ein Thema zu sprechen nun nicht mehr Ernst genommen fühlt. Ich habe schon oft gemerkt, dass wenn jemand über Thema X spricht und dann gesagt bekommt, dass Thema Y ja mindestens genau so schlimm sei, dich der Themenstarter fühlt als sei ihm gesagt worden „Stell dich mal nicht so an, anderen geht es auch schlecht“ oder das typische „in Afrika VERHUNGERN die Kinder!“. Eine eher unterschwellige Art des Whataboutism hier ist der Hashtag bzw. Begriff „First World Problems“, bei dem quasi der Vorwurf gemacht wird, dass das Problem nichtig sei, man sei bloß zu privilegiert und habe keine Ahnung vom Big Picture und „echten“ Problemen. Denn ganz ehrlich: Im Angesicht des Überlebenskampfes Anderer sind Alle unsere Probleme nichtig und müssen ja eigentlich gar nicht mehr besprochen werden, oder? Mit anderen Worten: „Whataboutism“ ist oft die Übersetzung von „hör auf zu jammern!“, jedenfalls fühlt es sich häufig so an.
Generell ist Whataboutism eher Problem- und nicht Lösungsorientiert. Das eigentliche Problem wird größer gemacht, relativiert und endet nicht selten „allumfassend“. Wenn Thema X auch mit Thema Y zu tun hat, was ist dann mit Thema A, B, und C? Die haben doch irgendwie auch damit zu tun, oder? So wird jedes Thema so groß, dass hinterher kaum einer mehr weiß, was eine Lösung sein könnte und jeder verlässt das Gespräch irgendwie unbefriedigt und wahrscheinlich auch ein wenig hilflos.
Wo findet whataboutism statt?
Ich beobachte schon eine ganze Zeit in Online-Diskussionen, dass nahezu jedes Thema über kurz oder lang auf die Metaebene gezogen wird, in der es gar nicht mehr um das eigentliche Problem geht, sondern um kosmische Ungerechtigkeiten und das allgemeine Elend in der Welt. Auch und vor allem im politischen Bereich finde ich bei selbsternannten Politik-Verdrossenen an der Wurzel oft Whataboutism-Züge. In der Politik ist es nun einmal üblich, dass man sich auf bestimmte Themen fokussiert und hier ansetzt um seine Interessen oder das allgemeine Recht durchzusetzen. Und genau da wird whataboutism oft als Waffe eingesetzt. Jemand setzt sich für Flüchtlinge ein „aber was ist mit den deutschen Obdachlosen?“. Jemand setzt sich für Obdachlose ein „aber was ist mit denen, die in Altersarmut leben?“. Jemand setzt sich für Alleinerziehende ein „aber was ist mit denen, die in ihrer Ehe mit allem alleingelassen werden?“ Jemand setzt sich für Kinder mit Legasthenie ein „aber was ist denn mit den Hochbegabten? Die werden IMMER vergessen!“ Diese Liste lässt sich quasi unendlich fortführen. Für jedes angegangene Problem gibt es eine whataboutistische Antwort.
Whataboutism wird oft auch angewandt, wenn sich die Situation um ein bestimmtes Thema dreht, eine andere Person darüber nicht viel weiß, aber dennoch gerne mitreden möchte. Daher lenkt er/sie das Gespräch in eine Richtung bzw. zu einem Thema, von dem er/sie mehr weiß. Da dies aber gar nicht das eigentliche Thema war, löst dies bei den anderen Beteiligten Frust aus. Dies kann dazu führen, dass sich das Gespräch nun darum dreht, worum es eigentlich geht und das Thema selber wird nicht mehr besprochen.
Ist Whataboutism immer schlecht?
Die einfache Antwort hier ist: Nein! Natürlich nicht. Oft ist es hilfreich, ein Problem auch von der Meta-Ebene aus zu betrachten und so vielleicht die „eigentliche“ Ursache zu sehen, von dem das ausgehende Problem nur ein Symptom ist. Auch ist es manchmal auch ganz gut, alles mal in Relation zu sehen und manchmal wird so das eigentliche Problem auch kleiner und hat vielleicht gar nicht mehr so viel Gewicht (das ist hilfreich dort, wo zu sehr auf ein kleines Detail fokussiert wird).
Und wie sieht man den Unterschied?
Das ist schwierig. Hier ist es hilfreich, die Motivation des „Themenstarters“ zu hinterfragen. Wollte er/sie sich einfach nur Luft machen? Brauchte er/sie Raum für seine Gedanken? War eine etwaige Frage rhetorisch oder wortwörtlich gemeint? Wichtig ist hier, dass man den Menschen den Raum gibt, den sie grad brauchen. Einer alleinerziehenden Frau, die sich erkundigt, wo sie Hilfe bekommen kann oder die sich über einen Missstand aufregt ist es nicht geholfen, wenn sie informiert wird, dass es verheirateten Frauen oft nicht besser ergeht. Auf der anderen Seite kann eine Teilzeit-Arbeitende, die einen Artikel zum Thema „Vorurteile gegen Teilzeit-Arbeitende“ teilt schon davon profitieren, wenn sie erfährt, mit welchen Vorurteilen ihre Vollzeit-Arbeitenden Kolleginnen kämpfen und merkt vielleicht, dass ihr Problem nicht am Teilzeit-Job liegt, sondern daran, dass sie eine Frau in einem eher patriarchisch denkenden Umfeld ist. Ja, den Unterschied zu sehen ist nicht immer einfach und es bedarf ein wenig Feingefühl, um korrekt zu entscheiden, ob eine Prise Whataboutism der Diskussion nun gut tut, oder eben nicht?
Ich muss sagen, dass auch ich nicht unschuldig bin in der ein oder anderen Situation schon whataboutistische Kommentare abgegeben zu haben. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir selber bin, dann war die Motivation hier oft, dass ich mir und meinen Interessen Raum geben wollte, den ich aber dazu anderen nehmen musste. Ich glaube, wenn wir uns diesem bewusst werden, dann ist es einfacher uns das nächste Mal den Whataboutism zu verkneifen und der Diskussion den Raum zu geben, den sie braucht um Früchte tragen und ggf. zu einer Lösung führen zu können.
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8 Comments
MamaDenkt
20. März 2018 at 09:40Das ist ein echt toller Artikel! Danke dafür. Drei Dinge bleiben mir im Kopf:
1. Ich setze #whataboutism sehr bewusst ein, um von einem Thema abzukommen, das sich schleppend entwickelt hat, weil sich die Diskutierenden kein Stück voran oder zurück oder überhaupt bewegen. „Kann man Toast eigentlich ich in Scheiben einfrieren?“ – Vielleicht nennt man das als Stilmittel dann aber auch anders?
2. Unbewusst habe ich ihn auch schon eingesetzt, weil ich gedanklich daran herumgefuhrwerkt habe, während die anderen noch diskutierten. Dabei war es nicht meine Absicht, eine Diskussion zum Stocken zu bringen, habe genau das dann aber auch leider erlebt… Mhm. Blöd.
3. Warum führt man dann nicht nochmal fokussiert zurück zum Ursprung der Diskussion? Was ist das dann, dass die Teilnehmer einer Diskussion nicht nochmal neu einsteigen wollen? Das ist tatsächlich das, was ich in Diskussionen, die mir wichtig sind, oft versuche, wenn jemand anders mit #whataboutism ankommt. Manchmal gelingt’s, manchmal nicht.
Katharina
20. März 2018 at 12:47Sehr schön! Und interessant! Muss man sich tatsächlich immer mal bewusst machen. Ich glaube eine Ursache liegt auch in unserer Zeit. Jeder glaubt zu allem eine Meinung haben zu müssen. Und wenn dann einer keine Ahnung von einem Thema hat, dann bleibt ihm nur in ein anderes Thema zu wechseln, bei dem er sich wohler fühlt…. dabei wäre es auch gut, einfach mal zu sagen: „Da kenn ich mich überhaupt nicht aus. Erzähl mir mehr davon“ Liebe Grüße
katharina
Marina von Jolinas welt
21. März 2018 at 18:32Ich habe den Begriff noch nie gehört, aber den Effekt kenne ich schon und bin oft genervt.
Elli
23. März 2018 at 09:15Ein richtig guter Text mit einigem Aha-Effekt bei mir. Das Problem habe ich schon oft erlebt und mir selbst passiert es leider auch mal und dann kam ein Gespräch ins Stocken.
Ich kannte aber noch keinen Namen dafür. Vielen Dank. Ich will versuchen bewusster darauf zu achten und kann es jetzt auch besser, dank dieses Textes. ???
perlenmama
20. April 2018 at 10:50Das freut mich, das war ja Sinn und Zweck des Texts…den Aha-Effekt weitergeben, den ich damals hatte, als ich davon gehört hatte.
Ich will doch nur die Welt retten! Warum hört mir denn keiner zu? | MamaDenkt.de
23. März 2018 at 09:18[…] kommt dann ganz schnell der Gedanke: JA, aber global… und dann denke ich an #whataboutism und den Beitrag, den Perlenmama, dazu die Woche verfasst hat. Dieses „Ja, aber was ist mit…“ in […]
Politisch? Authentisch? Relevant? 55 Fragen rund um Elternblogs – Perlenmama
7. Juni 2018 at 10:47[…] neben dem Mama-Sein und den Kids eben auch gesellschaftliche Themen. So habe ich kürzlich über „whataboutism“ in öffentlichen Debatten geschrieben, oder über 10 Wege, wie man seiner alleinerziehenden Freundin helfen […]
Ich will doch nur die Welt retten! Warum hört mir denn keiner zu? | MamaDenkt.de
10. März 2020 at 10:19[…] kommt dann ganz schnell der Gedanke: JA, aber global… und dann denke ich an #whataboutism und den Beitrag, den Perlenmama, dazu die Woche verfasst hat. Dieses “Ja, aber was ist mit…” in […]