Von Kindern, die die Welt nicht braucht

Heute gibt es mal wieder eine „Recycled Story“…ich habe sie hier schon mal erwähnt. Es geht um meine Zeit als Nanny in Amerika und wie ich das Familienleben meiner Gastfamilie erlebt habe…Heute sehe ich das ganze aus einem anderen Blickwinkel, doch der bittere Beigeschmack ist immer noch da.

Manche traurige Geschichte findet man an Orten, an denen man sie am wenigsten vermutet. Von armen, reichen Kindern.

„Ich hole euch in einer Stunde ab“, rufe ich dem Rotschopf nach, der gerade über das matschige Fussballfeld läuft. Er dreht sich um und winkt mir zu, bevor ich den schwarzen SUV zurück auf die nasse Strasse lenke. Sarah sitzt auf der Rückbank und folgt mit ihrem Zeigefinger den abperlenden Tropfen auf ihrem Weg das Autofenster hinunter. „Wie war dein Tag, Sarah?“, frage ich und schon ergießt sich über mich ein Wortschwall von dem sonst so stillen Mädchen. Ich weiß sie genießt diese Zeit, diese eine Stunde am Dienstag Nachmittag, in der sie mal ein Einzelkind ist und nicht nur ein Viertel der Aufmerksamkeit erhaschen kann.

Als wir in die Hofeinfahrt biegen, sieht Sarah den schwarzen Mercedes sofort. „Mama ist schon da“, staunt sie. Ich bin auch überrascht und folge der aufgeregten Sarah ins Haus. Als ich die Schultasche an den richtigen Ort gehängt und Sarahs unachtsam hingeworfene Schuhe in ihr Fach geräumt habe, betrete ich die Küche. Am Tisch sitzt eine müde Frau, die mich anlächelt und sich dann über das scheußliche Sommerwetter beschwert. Vor ihr liegt, neben einem perlenden Glas mit Diät Cola, die neue Vogue. „Wo sind die Anderen“, fragt sie mich, während sie Sarah wieder von ihren Knien schiebt und den Rock ihres creme-farbenen Kostüms glattstreicht. „Samuel und Chris sind beim Fußball Training, Hannah hat heute Ballett“, informiere ich sie, während ich einen Joghurt aus dem Kühlschrank hole und auf den Tresen stelle. „Ich dachte Ballett ist Donnerstags“, wundert sie sich und nippt an ihrer Cola. „Nein das war der alte Plan. Diesmal ist es Dienstags“, kläre ich sie auf. „Und das ist schon seit drei Monaten so“, füge ich in Gedanken hinzu. Sie schaut etwas verwundert und wirft einen Blick auf die Uhr. „Mami, darf ich dir mein Diktat zeigen? Miss Gardener hat gesagt meine Schreibschrift wird immer besser“, fragt Sarah aufgeregt und läuft ohne auf eine Antwort zu warten aus der Küche. Die hätte sie ohnehin nicht bekommen, denn genau in diesem Moment fängt das silberne Handy auf dem Küchentisch an zu singen.

Als das Telefonat beendet ist wendet sie sich mir zu. „Was gibt es Neues?“ Ich versuche alles in Kurzform zu erzählen, von Christophers Termin beim Kieferorthopäden („Das war heute?“), Samuels Ausflug zum Zoo („Die sollten die Kids wirklich nicht bei diesem Wetter draußen rumlaufen lassen. Wenn er krank wird kann er wieder nicht in die Schule“), und Hannahs Ärger mit der besten Freundin („Diese Sophie kann ich sowieso nicht leiden. So unerzogen. Aber bei der Mutter ist das auch kein Wunder…“). Sarah steht mittlerweile vor ihrer Mutter und wedelt mit ihrem roten Diktat-heft herum. „Mami, guck. Guck da. Einen Stern habe ich bekommen,“ sagt sie, als sie deren Aufmerksamkeit endlich ergatter hat.“ Ihre Mutter ließt sich den Kommentar der Lehrerin durch und blickt auf . „Wir müssen wirklich an ihrer Rechtschreibung arbeiten.“ Ich nicke. Sarah schaut ihre Mutter an „Mama, guck. Guck wie schön das S geschrieben ist. In Schreibschrift. Schön oder?“ Ihre Mutter guckt auf das Heft und nickt kurz.
„Vielleicht kannst du ein paar Übungsblätter von der Lehrerin, wie heißt sie noch gleich…?“
„Miss Gardner“, ruft Sarah.
„Ja genau. Vielleicht hat sie sowas.“
„Ich werde sie fragen“, versichere ich und denke an den großen Stapel Übungsblätter, die noch im Bastelschrank liegen. Sarah versucht noch immer nur ein lobendes Wort aus ihrer Mutter zu bekommen. „Ich habe sogar ‚pencilcase‘ richtig geschrieben, so ein langes Wort, oder Mama? So lang und ich hab es richtig. Sogar Kathy hat das falsch, und ich hab es…“ sprudelt es aus hier heraus bevor sie von ihrer Mutter unterbrochen wird, die sich gerade an die Schläfen fasst und diese leicht massiert. „Ja aber dafür hast du ein kurzes Wort wie ‚how‘ mal wieder falsch geschrieben“, sagt diese nur und steht auf. „Ich fahre jetzt zur Massage, ich muss mal was für mich tun. Dieser ständige Stress, ich habe schon wieder Kopfschmerzen“, sagt sie und verlässt die Küche auf dem Weg in ihr Zimmer. Sarah schaut ihr wortlos hinterher und klappt ihr Diktat-heft zu. Als ihre Mutter das Haus verlässt, schaut sie ihr nicht nach, sondern isst gedankenverloren ihren Joghurt.
Zwei Stunden später habe ich alle Kinder abgeholt und das Abendessen auf dem Tisch. Während des Essens höre ich Geschichten von Traumtoren und neuen Tamagotchies, Diktaten und matschigen Fußballplätzen. Nachdem ich den schlammigen Teil der Meute gebadet und den Mädchen die Haare geflochten habe, versammeln sich alle auf meinem großen Bett. Erst werden wieder die Kämpfe um die warmen Plätze zu meiner Linken und Rechten entschieden und dann lauschen vier Paar Ohren den neuen Abenteuern des Zauberschülers Harry Potter. Nachdem das Kapitel natürlich wieder viel zu kurz war, werden Gute-Nacht-Küsse verteilt und Ausreden überlegt, was denn noch alles gemacht werden muss, bevor dann endlich das Licht ausgeht.

Müde aber erleichtert kehre ich auch diesem Tag den Rücken und entspanne erst einmal beim Spülen und packe danach die Pausenbrotdosen für den nächsten Tag. Ich habe noch so viele Hausaufgaben zu machen und die Zwischenprüfung in Bio ist auch nicht mehr in allzu ferner Zukunft. Nach dem Füttern des Kleintier Zoo’s bestehend aus zwei Hunden, zwei Katzen einem Meerschwein und einem Kaninchen, zwei Wellensittichen und einem Fisch der so aussieht wie der Zeichentrickfisch Nemo, habe ich auch Zeit für meine Bücher. Irgendwann schaue ich auf die Uhr und stelle fest, dass es schon 23 Uhr ist. Ich schließe mein Buch und gehe nochmal nach oben um zu gucken ob die kleinen Monster nicht wieder irgendwelche Pyjama-Parties veranstalten. Doch alle schlafen tief und fest. Aber einer liegt nicht in seinem Bett. Christopher.

Ich wunder mich gar nicht mehr. Ich weiß genau wo er ist. Ich schleiche zum abgeschlossenen Elternschlafzimmer. Dort finde ich einen Neunjährigen, zusammengerollt wie eine Katze, mit Gänsehaut auf dem Boden vor der geschlossenen Tür liegend. Vorsichtig hebe ich ihn hoch. „Nein“, beschwert er sich schlaftrunkend. „Ich muss hier auf Mami und Dad warten, ich muss ihnen sagen dass ich neue Fussballschuhe brauche…“, murmelt er und legt seinen Kopf auf meine Schulter, der sicher genauso schwer ist wie seine Lider. „Mami und Daddy kommen später. Du kannst es ihnen morgen sagen.“ Ich wunder mich jeden Tag dass diese Kinder sich immer noch vertrösten lassen. Aber Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Christopher hat weder seinen Vater noch seine Mutter in den letzten zwei Tagen zu Gesicht bekommen. Obwohl sie Nacht für Nacht im selben Haus schlafen. Ich bringe den müden Racker zurück in sein Bett und kann schon nach wenigen Minuten wieder seinen gleichmäßigen Atemzügen lauschen. Ich weiß genau dass er morgen früh wieder um sechs aufstehen wird um wenigsten einen Blick auf seine Eltern zu erhaschen. Meistens kann er aber nur noch dabei zuschauen wie sie vom Hof fahren.

Vier Kinder, die die Welt nicht braucht. Oder zumindest deren Eltern, die sie gern nur schlafend sehen. Die Eltern gehen aus dem Haus und kommen wieder, wenn ihre Sprösslinge noch oder schon wieder im Bett liegen. Dazwischen liegen Tage voller Kindheit, von denen sie kaum eine Ahnung haben. Sie kennen nicht den Namen der Lehrer oder der besten Freunde. Sie wissen nicht welcher Hannahs Lieblingspullover ist oder wie weit Samuel jetzt schon ohne Stützräder radeln kann. Das Sarah jetzt lieber einen Apfel statt einer Banane in der Butterbrotdose haben möchte, oder dass Chris sich wieder mit seinem besten Freund vertragen hat können sie auch nicht wissen. Sie kennen ihre Kinder eigentlich nur von Schulnoten und den Videos, die ich von sämtlichen Schulauftritten mache. Als ich diesen Job annahm, dachte ich ich würde als Kindermädchen mein Collegegeld verdienen. Nun bin ich quasi eine 22-jährige Mutter von vier Kindern, die alles haben, außer Eltern. Ein iPod gibt einem Neunjährigen nicht die Anerkennung die er von sich von seinem Vater wünscht und auch die teuren Fußballschuhe nützen kaum etwas, wenn der Papa nie am Feldrand steht und die Tore bejubelt, die damit geschossen werden. Arme reiche Kinder. Und wenn ich so meine Truppe ansehe, wenn sie mich in ihre bunte Gedankenwelt einladen und von ihren Tagen in der Welt da draußen berichten, dann kann ich nur sagen, dass auch die reichen Eltern ziemlich arm sind. Haben sie doch diese vier wundervollen Menschen in diesem Haus, und wissen es noch nicht einmal. Sie kennen sie gar nicht. Manchmal fragen sie mich was so in ihren Erben vorgeht. Aber auch ich bin schon viel zu lange in der Erwachsenenwelt um es ihnen in der bunten und aufregenden Kindersprache erzählen zu können. Ich glaube auch nicht, dass sie auch nur ein Wort davon verstehen würden.

 

Wie gesagt, heute sehe ich es etwas anders und bedauer die Eltern ein wenig mehr, weil sie so wenig Zeit haben…und dieses Bedauern ist nun etwas weniger mit Vorwürfen belastet. Jedoch hat die Art in der die Kinder in dieser Zeit als Störfaktoren abgetan wurden noch immer einen bitteren Beigeschmack. Zum Glück änderte sich die Situation eine Weile nachdem ich diesen Text verfasste und die Mutter besann sich auf ihr Mutterherz und schaffte es sich wieder mehr Zeit für ihre Kinder freizuschaufeln. Die Kinder waren begeistert. Und ich auch, auch wenn das natürlich bedeutete, dass ich weniger Stunden arbeiten konnte. 

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2 Comments

  • Reply
    nandalya
    4. Dezember 2014 at 13:32

    Diese Eltern jagten einem Reichtum hinterher, den sie schon längst hatten.

  • Reply
    sufo2
    4. Dezember 2014 at 13:47

    Oh diesen Text kenne ich noch. Ich habe damals lange darüber nachgedacht und war erschüttert.
    Na klar, Eltern arbeiten ,mal mehr uns mal weniger. Ich finde es beneidenswert, dass die Kinder sie dennoch so sehr geliebt haben. Ich finde es traurig, wenn man Kunst hat, ändert keine Zeit für Sie. Irgendetwas läuft da sehr falsch. Aber gut finde ich, dass die Mutter es wohl verstanden hat und auf Ihr muttersein zurück gegriffen hat. Kunst brauchen Eltern die da sind. Auch wenn sie berufstätig sind! Kinder brauchen Mama und Papa und Oma und Opa. Natürlich sind nannys super und ich glaube viele Familien sind dankbar das es die gibt. Aber sie dürfen nicht als Mutter / Vater/ Familien Ersatz dienen.

    Lg

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